Auszug aus der Pressemitteilung vom 25.08.2016:
Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber
nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen. Dies hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden (Beschluss vom 26. Juli 2016 - 1 BvL 8/15-).
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Das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht eine ärztliche Zwangsbehandlung nur für solche Betreute vor, die nach § 1906 Abs. 1 BGB geschlossen untergebracht sind (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB).
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In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können nicht nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Damit wird solchen Betreuten ... nicht der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil.
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Es liegt in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob er die Schutzlücke durch Einbeziehung der betroffenen Personengruppe in den § 1906 Abs. 3 BGB unter Verzicht auf eine freiheitsentziehende Unterbringung oder außerhalb dieser Norm gesondert behebt.
Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei drohenden gravierenden oder gar lebensbedrohenden Gesundheitsschäden dieser Personengruppe die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, ist die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung anzuordnen.
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Der Gesetzestext:
§ 1906 - in der Fassung von 2013 -
Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil
1. ...
2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
Der Fall:
Es ging um eine 63-jährige Betroffene die unter einer schizoaffektiven Psychose litt. Anfang September 2014 wurde die Betroffene kurzzeitig in eine Pflegeeinrichtung
aufgenommen. Dort lehnte sie es ab, die zur Behandlung einer Autoimmunerkrankung verordneten Medikamente einzunehmen, verweigerte die Essensaufnahme und äußerte Suizidabsichten. Ab Mitte
September 2014 befand sich die Betroffene mit richterlicher Genehmigung auf einer geschlossenen Demenzstation in einem Klinikum. Während des Aufenthalts wurde eine Krebserkrankung
festgestellt. Die Betroffene war zu diesem Zeitpunkt körperlich stark geschwächt, konnte nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen.
Auf richterliche Befragung äußerte sie wiederholt, sie wolle sich nicht wegen der Krebserkrankung behandeln lassen. Weder wolle sie eine Operation noch eine Chemotherapie. Die Betreuerin
beantragte die Unterbringung (darunter ist das Verbringen in eine geschlossene Einrichtung ohne oder gegen den Willen des Betroffenen zu verstehen) und Zwangsbehandlung wegen der
Krebesbehandlung. Das Amtsgericht - ebenso wie die Beschwerdeinstanz - wies den Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Bei der Betroffenen liege zwar eine psychische
Krankheit vor, die sie daran hindere, in die erforderlichen ärztlichen Heilbehandlungen einzuwilligen. Eine Unterbringung sei aber nicht erforderlich, da die ärztlichen Eingriffe auch im
Rahmen einer offenen Einrichtung erfolgen könnten. Will heißen: die Betroffene kann sich ja nicht mehr entfernen ("weglaufen"), dann entfällt aber auch die
Erforderlichkeit der Unterbringung in eine geschlossene Einrichtung. Problem: das Gesetz kennt in der gegenwärtigen Fassung aber nur die Zwangsbehandlung im Rahmen der
Unterbringung.
Was sagt das Bundesverfassungsgericht ?
In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können aktuell nicht nach § 1906
Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Damit wird solchen Betreuten, nicht der nach Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil. Insoweit genügt die Rechtslage für Betreute nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Für diese Personengruppe ist ab sofort die Regelung
über die Durchführung der Zwangsbehandlung bei untergebrachten Personen entsprechend anzuwenden.
Was ist zu beachten?
Die Entscheidung betrifft ausdrücklich nur die Gruppe bereits sich in stationär Behandlung befindlicher Betreuter. Ausdrücklich sagt das Bundesverfassungsgericht, dass es nicht über die Frage entscheidet, ob die Schutzpflicht des Staates auch verletzt ist, wenn Betreute - wie es aktuell der Fall ist - bei nur ambulanter Behandlung nicht der Zwangsbehandlung zugeführt werden können. Dies sei nicht Gegenstand der Vorlage durch den Bundesgerichtshof gewesen. Offen bleibt auch die Frage, wie Fälle zu behandeln sind von bewegungsunfähigen Betreuten, dies sich "nur" in häuslicher Versorgung befinden, aber eine erforderliche Behandlung ablehnen - hier ist ja auch eine Unterbringung mangels "Weglaufmöglichkeit" nicht erforderlich.
zur vollständigen Entscheidung
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